Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch die Kraft und die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus dargelegt haben; sondern sind selbst zu Augenzeugen seiner Majestät geworden. 
Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis, die ihm eine Stimme von großer Klarheit brachte: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.
(2. Petrusbrief, Kapitel 1)

Liebe Gemeinde,

wenn wir ein Buch lesen, tut sich vor unserem inneren Auge eine eigene Welt auf. Als vor einigen Jahren die Bücher von Joanne K. Rowling über den Zauberschüler Harry Potter erschienen, begab sich eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen in diese frei erfundene Welt von Hogwarts aus Muggeln, Halbblütern, Zaubermeistern und anderen Wesen. Der weltweite Erfolg hat die Aufmerksamkeit von wohlmeinenen und kritischen Beobachtern hervorgebracht. Während der Papst 2005 darin eine Gefahr sah („dies sind subtile Verführungen, die unmerklich und gerade dadurch tief wirken und das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte“), fanden Psychologen in einer 2014 veröffentlichten Studie heraus, dass Harry-Potter-lesende Jugendliche gegenüber Minderheiten vorurteilsfreier sind. Wer beim Lesen der Bücher gelernt hatte, sich in die verschiedenen literarischen Rollen hineinzuversetzen, der schulte dabei auch die Fähigkeit, fremden Menschen offener zu begegnen. Außerdem positionieren sich Menschen dann schneller auf Seiten dessen, was sie als Gut erkennen und scheuen keine Konflikte mit „Bösewichtern“.
Menschen haben sich schon immer spannende Geschichten erzählt: zur Unterhaltung, zur Erinnerung an prägende Ereignisse, zum Verarbeitung von Katastrophen oder zum Aufzeigen von richtigen Handlungsmöglichkeiten.


Im ältesten überlieferten menschlichem Epos, der Gilgamescherzählung, ist das alles bereits enthalten. Wir finden es auch in vielen Erzählungen der Bibel, in den Märchen der Brüder Grimm, den Sagas der nördlichen Völker oder den Traumzeitlegenden der Aborigines in Australien.
Das lässt vermuten, dass wir Menschen diese Geschichten nicht nur gut erfinden und erzählen können, sondern dass wir sie zum Leben brauchen. Wir haben die Fähigkeit, uns in andere Welten hineinzuversetzen, und dort fast wie in Wirklichkeit Dinge zu denken, zu verstehen, ja zu erleben. Eine Interpretation der Philosophie Platons behauptet sogar, dass die Welt, die wir als wirklich erleben gar nicht die wirkliche ist, sondern die Welt, welche wir nur mit unseren Gedanken erreichen. Darin liegt bekanntlich auch die Gefahr der Flucht vor der Wirklichkeit, indem man sich in die erfundene Welt von Romanen, Märchen oder Computerspielen verliert.
Märchen, Mythen und Legenden enthalten aber auch immer etwas Wahres und sind an die Wirklichkeit rückgebunden. Sie bilden eine besondere Gegenwelt ab, die ohne die Alltagswelt schnell an Reiz verlieren würde. Gerade aber an der Schwelle zwischen diesen beiden Welten wird uns klar, dass die wirklich erfahrene Welt nicht unbedingt immer so war, wie sie jetzt ist und dass sie demzufolge auch nicht so bleiben muss. Unsere Welt kann und wird sich verändern.
Der Schreiber des 2. Petrusbriefes weist auf eine solche Schwelle hin. Er berichtet von der sogenannten Verklärung Jesu, wie sie auch in den Evangelien erzählt wird (Mk 9, Mt 13, Lk 9). Jesus geht mit 3 Schülern auf einen Berg und es öffnet sich der Himmel, aus dem dann Elia und Mose zu ihm kommen. Eine himmlische Stimme weist auf Jesus hin.
Diese schöne und tiefgreifende Erzählung bietet sehr viel Nachdenkenswertes. Doch der 2. Petrusbrief will diese Geschichte nicht einfach erzählen. Er setzt ihre Kenntnis bei seinen Adressaten voraus. Er will sie vielmehr auch für diejenigen, die nicht dabei waren, erlebbar machen. Indem sich beim Erzählen vor unserem inneren Auge die Geschichte noch einmal vollzieht, nehmen wir an ihr teil als ob wir selbst dabei gewesen wären; mehr noch: wir sind wirklich dabei! Die Weisen aus dem Morgenland haben uns nichts voraus, nur weil sie persönlich anwesend waren im Stall von Bethlehem. Die Apostel haben uns nichts voraus, nur weil sie Jesu Stimme mit eigenen Ohren gehört haben und er ihnen das Brot aus seiner Hand reichte. Wenn wir uns in die Erzählwelt der Bibel hineinbegeben, sind wir selbst dort, auf dem Berg Tabor, am Tisch des Abendmahls, auf dem Weg nach Emmaus oder in einem verschlossenen Raum das fürchtend, was draußen von anderen Menschen droht. Und Jesus ist jeweils auch wirklich bei uns.
Dabei ist es dem 2. Petrusbrief wichtig, darauf hinzuweisen, dass dies keine Flucht in eine imaginäre Welt ist, sondern eine Teilhabe an den ja wirklich geschehenen Ereignissen. Wir sind, weil wir selbst dabei sind, dann aber auch verantwortlich, das Erlebte selbst und die Erkenntnisse daraus in unser Leben einzubinden und auch, es an andere weiterzuerzählen.


Mit herzlichen Grüßen- auch von Jutta Richter-Schröder und Gudrun Schlottmann
Hardy Rheineck

 

 
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