sonnt 3 01 

Liebe Gemeinde,

neu anfangen zu können –, manchmal wünsche ich mir das, gerade am Jahresanfang. Doch dann merke ich, dass ich das Vergangene nicht einfach dadurch loswerde, dass ich einen neuen Kalender an die Wand hänge, sondern dass mich manches, ob nun Gutes oder Böses, weiterhin begleiten wird. Neu anfangen zu können heißt nicht, dass mein Leben auf Null gesetzt wäre wie eine neu formatierte Festplatte. Sondern neu anfangen zu können heißt, vor dem Hintergrund vergangener Erfahrungen einen neuen, einen anderen Weg einzuschlagen.

Einer der bemerkenswertesten Neuanfänge für mich ist, wie sich das Verhältnis von Juden und Christen in unserem Land nach den Verbrechen des Nationalsozialismus entwickelt hat. Nichts davon ist vergessen, und doch ist so viel Neues und Gutes entstanden. Nicht zuletzt durch das gemeinsame Lesen der biblischen Texte.

Jahrhundertelang stritten sich Christen und Juden darüber, wer denn nun „die Bibel“ richtig versteht. Von christlicher Seite wurde dabei an Beschimpfungen, Verfluchungen und Verfolgungen der jüdischen Leser nicht gespart. Erst in den letzten Jahrzehnten haben wir Christenmenschen gelernt, dass man den gleichen Bibeltext nicht nur auf unterschiedliche Weise verstehen kann, sondern dass wir beide, Juden und Christen, den einen und uns gemeinsamen Gott auf unterschiedliche Weise zu uns reden hören können. Und dass uns dies – wechselseitig – bereichert.

Mich fasziniert zum Beispiel, wie im Laufe eines Jahres im jüdischen Gottesdienst die gesamte Tora (in christlicher Zählung: 1. bis 5. Buch Mose) gelesen wird. Nichts ist unwichtig, nichts wird ausgelassen, kein Vers, kein Wort, nicht einmal ein Buchstabe. Und ich überlege, wie es wohl wäre, läsen auch wir nicht nur einzelne Verse oder kurze Abschnitte, sondern einmal ein ganzes Evangelium von vorn bis hinten oder einen ganzen neutestamentlichen Brief und achteten dabei ebenso sorgfältig auf jedes einzelne Wort.


Ein anderes Beispiel. Die Tora erzählt in einem großen Bogen vom Anfang der Schöpfung an bis zum Tod von Mose. Eine Geschichte wie durch eine Kamera gefilmt; am Anfang mit großem Weitwinkel die Entstehung von Himmel und Erde und am Ende hineingezoomt auf das letzte Wort der Tora: „Israel“.

Kaum aber ist im Gottesdienst am Fest „Simchat Tora“ dieses letzte Wort verklungen, beginnt die Lesung der Tora sofort wieder von vorne: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ Und ich lerne aus der jüdischen Leseweise, dass beides zusammengehört: Gott, der sich seinem Volk Israel zuwendet, ist als Schöpfer von Himmel und Erde allen Menschen nahe.


In diesem Jahr werden Sie im Schaukasten am Katharina-von-Bora-Haus (Eingang Franz-Treller-Straße) und in vielen anderen evangelischen, katholischen und in manchen jüdischen Gemeinden im monatlichen Wechsel Plakate aushängen sehen, die überraschende Beziehungen zwischen Juden und Christen entdecken helfen und zum Nachdenken und Nachfragen anregen wollen.

In vielem unterscheiden sich Juden und Christen, und doch sind wir uns näher, als man denkt. Bleiben Sie gespannt auf das, was es hierbei zu entdecken gibt, und bleiben Sie behütet diesen Sonntag und die neue Woche.

Herzlich grüßt auch im Namen der Wehlheider PfarrkollegInnen

Ihr Pfarrer Reinhard Brand

 
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